
Anfang 2014 übernahm Myanmar offiziell den jährlich wechselnden Vorsitz im Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN). Als Motto wählte Myanmar “Moving Forward in Unity to a Peaceful and Prosperous Community“. Doch im Gegensatz zu den 27. Southeast Asian Games (SEA Games), die im Dezember 2013 in Myanmar mit viel Pomp und Getöse und unter großer Aufmerksamkeit ausgetragen wurden, findet Myanmars ASEAN-Vorsitz nur wenig Beachtung. Nichtsdestotrotz ist Myanmars erstmaliger Vorsitz in ASEAN - einer aufstrebenden und dynamischen Region mit 10 Nationen und mehr als 600 Mio. Einwohnern - sowohl für ASEAN als auch für Myanmar von besonderer Bedeutung. Denn nach seinem Beitritt im Jahr 1997 galt Myanmar aufgrund der massiven Menschenrechtsverletzungen durch das damalige Militärregime und der beständigen ethnischen Konflikte als das „schwarze Schaf“ unter den ASEAN-Ländern, war international geächtet und wurde vom Westen mit Wirtschaftssanktionen bestraft. Bereits 2006 sollte Myanmar ursprünglich den ASEAN-Vorsitz übernehmen, musste jedoch auf Druck der USA und EU unfreiwillig davon Abstand nehmen. Myanmars Vorsitz wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Erst als die Regierung unter Präsident Thein Sein im Jahr 2011 offiziell das Ruder übernahm und weitreichende politische und wirtschaftliche Reformen auf den Weg brachte wurde Myanmar mit dem ASEAN-Vorsitz belohnt. Die Erwartung, dass Myanmar dadurch motiviert werden könnte, den begonnenen Reformkurs bis 2014 beizubehalten hat sich aus heutiger Sicht durchaus bestätigt. Wie aber könnte sich der Vorsitz auf den weiteren Transformationsprozess auswirken, und welche Vorteile kann Myanmars ASEAN Engagement langfristig bringen?
Rehabilitation und Bewährungsprobe für ehemaligen Außenseiter
Für Myanmar bedeutet der Vorsitz zunächst die Anerkennung als gleichwertiges Mitglied in der ASEAN-Gemeinschaft und die symbolische Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft. Das Image des Außenseiters soll nach langer Durststrecke internationaler Isolation und Ächtung endlich hinter sich gelassen werden. „Myanmar erhält [Anm.: durch den Vorsitz] politische Legitimität, ungeachtet dessen, ob der Reformprozess nun real ist oder nur Kosmetik“, sagt der aus Myanmar stammende Khen Suan Kai, Lektor an der Maeh Fah Luang Universität in Thailand.
Anlässlich des Vorsitzes werden ein Jahr lang tausende Delegierte und Diplomaten aus der Region und aller Welt zu zahlreichen Veranstaltungen nach Myanmar reisen. Für viele wird es der erste Kontakt mit einem Land sein, mit dem selbst in Südostasien nur wenige eng vertraut sind. Selbst im Nachbarland Thailand wissen die Menschen erstaunlich wenig über den Erzrivalen Myanmar, von Klischees und historischen Mythen über Jahrhunderte zurückliegende Eroberungskriege einmal abgesehen. Damit kann Myanmar den begonnen Öffnungsprozess nach außen hin beschleunigen. Der ASEAN-Vorsitz dient dazu als willkommener Katalysator.
Um den Besucheransturm zu bewältigen wurden bereits im Vorfeld große Anstrengungen unternommen, um die chronisch mangelhafte Infrastruktur im Land auszubauen. Vor allem im Bereich Hotellerie, Transport und Kommunikation wurde für ASEAN 2014 investiert, was auch langfristigen Nutzen bringt, nicht zuletzt für den Tourismus. Khen Suan Khai sieht nach ersten erfolgreich absolvierten Testläufen im Zuge des World Economic Forum und der SEA Games 2013 im ASEAN-Vorsitz auch einen weiteren Test für die Kapazitäten Myanmars: “Der Lerneffekt wird für das Land von Vorteil sein.“ Myanmar erhält die Chance zu zeigen, dass es in der kurzen Zeit seit seiner Öffnung gelernt hat, sich auf dem internationalen Bankett zu bewegen und die Interessen aller ASEAN-Staaten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Dabei tut es gut daran, aus den Fehlern der vorherigen Gastgeberländer zu lernen, allen voran Kambodscha. Der Vorsitz Kambodschas im Jahr 2012, der von Skandalen überschattet war, ist vielen noch in schlechter Erinnerung. Besonders während des ASEAN People Forum in Phnom Penh zeigte sich die ablehnende Haltung der Regierung Hun Sens gegenüber der Zivilgesellschaft. Mit Sabotageakten und Ablenkungsmanövern wurde das ASEAN People Forum behindert und ein kritischer Dialog zwischen Zivilgesellschaft und dem ASEAN-Vorsitz unterminiert. Darüber hinaus kam es im Zusammenhang mit Grenzkonflikten im Südchinesischen Meer zwischen China und den betroffenen ASEAN-Staaten zum Eklat. Aufgrund des übermächtigen Einflusses Chinas in Kambodscha scheiterten die ASEAN-Außenminister erstmals in der Geschichte des Staatenbundes an einer gemeinsamen Abschlusserklärung.
Für Myanmar werden nicht nur die Bemühungen um eine Vermittlung im Grenzstreit im südchinesischen Meer, wie beispielsweise die Ausarbeitung eines vorgeschlagenen Code of Conduct, eine Gratwanderung werden (1). Seit der jüngsten Öffnung versucht sich das Land zunehmend aus der als einseitig empfundenen Abhängigkeit Chinas zu lösen und wird auch in Zukunft seine neu gewonnen Selbstständigkeit nicht aufgeben wollen. Doch das Verhältnis zu China ist bereits durch mehrere Auseinandersetzungen über chinesische Investitionsprojekte in Myanmar, allen voran dem Myitsone Staudamm und der Kupfermine in Monywa, stark belastet.
Kyaw Thu Mya Han vom Institut für Internationale Beziehungen der Yangon Universität befürchtet „falls es im Zuge des ASEAN-Vorsitzes zu einer für China nachteiligen Stellungnahme kommen würde, könnte sich das nicht nur auf die bilateralen Beziehungen zwischen China und Myanmar nachteilig auswirken sondern auch auf die Lage im nördlichen Kachin-Staat“. Der an China grenzende Kachin-Staat ist nach wie vor von bewaffneten Konflikten betroffen, die Situation weiterhin instabil.
Auch für das Verhältnis zwischen der Regierung in Naypyidaw und der myanmarischen Zivilgesellschaft stellt das Jahr 2014 eine neue Bewährungsprobe dar. Sollte die Regierung ähnlich restriktiv wie die Regierung unter Kambodschas Premier Hun Sen gegen die zivilgesellschaftlichen Vertreter/innen ASEANs vorgehen, würde das einen beträchtlichen Imageschaden bedeuten und das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft in den Reformwillen der myanmarischen Regierung nachhaltig beeinträchtigen. Das diesjährige ASEAN People‘s Forum 2014 vom 21. – 23. März, an dem mehr als tausend Vertreter und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft aus allen ASEAN-Ländern teilnehmen werden, um über die Herausforderungen ASEANs aus zivilgesellschaftlicher Perspektive zu diskutieren, wird zeigen, wie ernst es der Regierung mit einem inklusiven Dialog ist.
Auswirkungen auf den Friedensprozess und die politische Stabilität
Der ASEAN-Vorsitz 2014 kommt für Myanmar in einer kritischen Phase innenpolitischer Transformation, nur ein Jahr vor den nächsten geplanten Parlamentswahlen 2015, inmitten von heiß geführten Debatten zu Verfassungsreformen und den Friedensverhandlungen mit den ethnischen bewaffneten Gruppen. Außerdem kam es in jüngster Zeit zu einer Eskalation der Gewalt zwischen Muslimen und Buddhisten, die sich nach anfänglichen Übergriffen auf die muslimische Minderheit der Rohinyga im Rakhine-Staat auf andere Gebiete im ganzen Land ausdehnten. Angesichts dessen besteht die Gefahr, dass der ASEAN-Vorsitz von diesen gravierenden innerstaatlichen Problemen ablenkt und damit den Friedensprozess und die Stabilität eher beeinträchtigt als befördert. Es ist fraglich ob Myanmar ausreichend Kapazitäten hat, um gleichzeitig den ASEAN-Vorsitz abzuwickeln und die dringlichsten innenpolitischen Probleme zu bewältigen. Allen voran den Friedensprozess mit den ethnischen Minderheiten, der auf ein nationales Waffenstillstandsabkommen zusteuert - ein wichtiges Ziel der Regierung Thein Sein.
Der erste Teil ASEAN Slogans 2014 “Moving Forward in Unity to a Peaceful and Prosperous Community” muss daher auch im nationalen Kontext gelesen werden. Erstmals seit Jahrzehnten der Militärdiktatur und der verordneten Einheit des Landes durch militärischen Zwang setzt Myanmar auf eine politische Lösung der jahrzehntealten ethnischen Konflikte. Zwar wurden nach zahlreichen Friedensverhandlungen inzwischen mit den meisten bewaffneten Gruppen Waffenstillstände ausverhandelt, doch eine umfassende politische Lösung steht weiterhin aus. Es bleibt ungewiss, wie eine gemeinsame Zukunft der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen unter dem gemeinsamen Dach „Republik der Union Myanmar“ aussehen kann. Unterdessen gehen im Norden des Landes im Kachin-Staat, auch mit Beginn des ASEAN-Vorsitzes die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und der Armee der Gruppe der Kachin unvermindert weiter. Kyaw Thu Mya Han geht davon aus, dass „ASEAN einen geringen Einfluss auf den Friedensprozess haben wird.“ Noch immer gilt in ASEAN die Doktrin der Nicht-Einmischung in innenpolitische Angelegenheiten der Mitgliedstaaten. ASEAN-Länder sind deshalb kaum in Myanmars Friedensprozess involviert, im Gegensatz zur EU, USA, Australien, Japan und multilateralen Organisationen, die sich aktiv an unterschiedlichen Friedensinitiativen beteiligen, wie der Myanmar Peace Support Initiative, dem Myanmar Pace Center oder der International Peace Support Group.
Auch für die muslimische Minderheit der Rohingya, die nach Übergriffen durch die buddhistische Mehrheit im Rakhine-Staat zu Tausenden über das Meer in die ASEAN-Staaten Thailand und Malaysia fliehen, bringt der ASEAN-Vorsitz zunächst wenig Hoffnung auf eine Besserung der aussichtlos scheinenden Situation. Gleich zu Beginn des Vorsitzes machte der Sprecher Präsident Thein Seins in einem ersten Treffen klar, dass “das Thema der Bengali [der Begriff Rohingya wird von der Mehrheit der Burmesen nicht anerkannt] eine interne Angelegenheit ist und nicht in ASEAN Treffen diskutiert wird, auch wenn [ASEAN] Mitgliedstaaten danach fragen.“ Daran werden auch die mehrheitlich muslimischen Mitgliedsstaaten Indonesien und Malaysia nur wenig ändern können. Erst im Januar 2014 gab es erneute Berichte über Übergriffe auf Rohingya, die von der Regierung jedoch dementiert wurden.
Kann Myanmar von der ASEAN Wirtschaftsgemeinschaft profitieren?
Ein programmatischer Schwerpunkt des Vorsitzes 2014 wird die Vorbereitungen der „ASEAN Economic Community“ - der ASEAN Wirtschaftsgemeinschaft - sein. Auf sie wird im zweiten Teil des ASEAN Slogans 2014 „Moving Forward in Unity to a Peaceful and Prosperous Community” verwiesen. Unter der ASEAN Economic Community (AEC) werden eine Reihe von Abkommen und Initiativen zusammengefasst, „um durch wirtschaftliche Integration und Liberalisierung der Märkte ASEANs eine prosperierende Wirtschaftsregion zu schaffen“. Die AEC, deren Hauptziele die Öffnung der Dienstleistungsmärkte, der Abbau von Zollbarrieren und die Aufhebung von Investitionsschranken im ASEAN Raum sind, soll bereits Ende 2015 realisiert werden. Kritiker der AEC sehen darin einen „institutionellen Masterplan, der auf dem Konzept des Neoliberalismus basiert und den Prozess der Neoliberalisierung in Südostasien weiterführen soll“. Der ASEAN Experte Dr. Bonn Juego von der City University Hongkong befürchtet, die AEC vertrete lediglich „die materiellen und ideologischen Interessen der Privatwirtschaft, des Privateigentums und der privaten Gewinne auf Kosten des öffentlichen Wohls und der sozialen Werte der Gemeinschaftsgüter“.
Für Myanmar, das nach Jahrzehnten der Wirtschaftssanktionen seine in Trümmern liegende Ökonomie erst behutsam wiederaufbauen muss, bedeutet die AEC eine besondere Herausforderung. Während lokale Wirtschaftsforschungsinstitute die Regierung davon überzeugen wollen, sich der AEC zu öffnen, mit dem Ziel Investitionskapital anzulocken und Arbeitsplätze zu schaffen, sehen Teile der lokalen Zivilgesellschaft mehr Gefahren als Nutzen darin. Viele befürchten, eine Öffnung der myanmarischen Wirtschaft, die nach Jahren der Misswirtschaft regional kaum wettbewerbsfähig ist und von großer Machtkonzentration mit engen Verbindungen zum alten Militärregime geprägt ist, könnte die bestehende soziale Ungleichheit noch verstärken und nur wenig zur Armutsbekämpfung beitragen. „Ich sehe nicht, welchen Beitrag Myanmar zur AEC leisten könnte, vor allem, da Myanmars Wirtschaft noch nicht auf produzierender Industrie basiert. Gegenwärtig ist Myanmars Wirtschaft zum Großteil von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen abhängig“ hält der Sozialwissenschaftler Phyo Winn Latt dem Beitritt Myanmars zur AEC entgegen. Tatsächlich leben zwei Drittel der Bevölkerung hauptsächlich von der Landwirtschaft. Dabei stellt sich die Frage, wie die mehrheitlich Kleinbauern, die zunehmend von Investoren von ihrem Land vertrieben werden, von einem freien Fluss von Kapital, Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskräften profitieren können. Darüber hinaus sind die in Jakarta und Naypidaw erarbeiteten Pläne zur Umsetzung der AEC kaum zur Bevölkerung durchgesickert: „Kleinunternehmer wissen nicht viel über AEC. Sie müssen sich auf den täglichen wirtschaftlichen Überlebenskampf konzentrieren und haben mit mangelafter Infrastruktur und Stromausfällen zu kämpfen“ meint Kyaw Thu Mya Han. Durch den Vorsitz fällt Myanmar nun die Aufgabe zu, den wirtschaftlichen Liberalisierungsprozess ASEANs im Rahmen der AEC entscheidend voranzutreibend, ohne jedoch im eigenen Land die Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit dieses Vorhabens ausreichend thematisiert zu haben.
Für Myanmar hält der ASEAN-Vorsitz 2014 dennoch Chancen bereit, sollte sich die Regierung noch dazu entschließen, drängende Probleme auch innerhalb ASEANs offen anzusprechen und aktiv die Unterstützung der ASEAN-Partner und Zivilgesellschaft zu suchen. Vor allem der Massenexodus der staatenlosen Rohingya nach Thailand und Malaysia ist ein transnationales Problem, das nur auf regionaler Ebene gelöst werden kann. Doch auch für den internen Friedensprozess könnte die Expertise von Ländern wie Indonesien oder Philippinen, die in der Vergangenheit ähnliche Erfahrungen gemacht haben, von großem Nutzten sein. Für ASEAN wäre es eine Gelegenheit die überkommene Haltung der Nichteinmischung zu hinterfragen, die mit voranschreitender regionaler Integration zunehmend obsolet wird.
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(1) Die Bemühungen um einen Code of Conduct (Verhaltensregeln) zur friedlichen Beilegung der territorialen Streitigkeiten zwischen China und ASEAN Mitgliedsländern im Südchinesischen Meer gehen bereits auf das Jahr 2002 zurück. Bis dato ist jedoch der Aushandlungsprozess zur Festlegung verbindlicher Verhaltensregeln nicht abgeschlossen.